Herr Soldner, Anfang letzten Jahres referierten Sie auf einem Impfkongress in Berlin. Da war von Impfpflicht noch keine Rede. Gerade wurde der Ulmer Virologe Professor Dr. med. Thomas Mertens neuer Leiter der Ständigen Impfkommission, der STIKO, beim Robert Koch-Institut. Mertens gab sich auf dem Kongress als freundlicher Alt-68er, der „allergisch reagiere, wenn es um Pflicht oder Zwang“ gehe.
Professor Mertens hat sich persönlich immer gegen eine Impfpflicht ausgesprochen, war nie ein Vorantreibender des Impfpflicht-Projekts und hat immer, wenn er persönlich gefragt wurde, geantwortet, dass er die Impfpflicht nicht als notwendig oder wünschenswert ansieht. Das ist Fakt. Aber es ist auch eine Tatsache, dass er sich in der aktuellen Debatte nicht gegen die Impfpflicht äußert. Sondern er sagt, das kann man in einem Rundfunkinterview nachhören: „Dann machen wir selbstverständlich mit.“ Aber er bleibt neutral in der Frage. Es gilt überhaupt festzuhalten, dass die eigentlichen Fachleute beim Thema Impfen, die sich in den Instituten hauptberuflich damit beschäftigen, allesamt nicht für die Impfpflicht sind. Die Forderung nach der Impfpflicht geht in Deutschland zwar von der Politik aus, ist aber Teil einer internationalen Kampagne. Deutschland steht da fast ein bisschen am Pranger wie mit seinen Verteidigungsausgaben. Mit Herrn Minister Spahn, der ja eine sehr pharmaintensive Vergangenheit hat, sieht die Welt jetzt anders aus. Die Aktionen zur Impfpflicht gegen die Masern haben die Debatte verändert: insbesondere wurde jeder, der nicht gleich für diese Position der möglichst frühen, zweimaligen Masernimpfungen einstand, öffentlich als Gefährder dargestellt. Eine höchst polarisierende Debatte entzündet sich da – im Grunde neben der Wirklichkeit!
Erklären Sie uns die
Wirklichkeit!
Die Wirklichkeit hat sich verändert. Auch
bei uns, der anthroposophischen Ärztegesellschaft. Wir haben unsere Auffassung
zur Masernimpfung ein Stück weit korrigiert. Und zwar unter dem globalen
Eindruck. Man muss sagen, von der Sache her gibt es keinen Anlass für dieses
Gesetz zur Impfpflicht. Ein wichtiges gesundheitspolitisches Thema wurde
instrumentalisiert, durchaus auch mit populistischem Hintergrund, um sich
international zu positionieren. Aber dabei wurde außer Acht gelassen, welche
Rechtslage in Deutschland herrscht. Und es ist auch wieder bemerkenswert, dass
sich die Politik einerseits völlig von der deutschen Rechtslage entfernt, die
keine Masernimpfpflicht hergibt, während andererseits die Fachleute, wie
Professor Wieler, Leiter des Robert-Koch-Instituts, und Professor Mertens nie
eine Impfpflicht gefordert haben.
Warum haben Sie Ihre
Position in Richtung Masernimpfung verändert?
Die Masern sind ein globales Thema. Und
wir leben in einer – in dieser Hinsicht – absolut globalen Gesellschaft. Masern
bringen in armen Ländern – darauf haben wir immer hingewiesen, da hat sich
nichts bei uns geändert – nach wie vor eine hohe Sterblichkeit mit sich. Das
ist das eine. Die andere Situation ist die, dass es die epidemische
Kinderkrankheit, die im Alter zwischen einem und sechs Jahren auftritt,
eigentlich nicht mehr gibt.
Können Sie uns das
erklären?
Früher hatten die Masern dazu geführt, dass
stillende Mütter ihren Säuglingen einen hohen Nestschutz mitgaben. Diese
Mütter, die als Kind Masern hatten in einer Gesellschaft, in der Masern
unterwegs sind, können ihre Säuglinge gegen Masern schützen. Die Lage hat sich
völlig geändert. Wir haben nur noch Zufallsmasern im Kleinkindesalter.
Inzwischen sind sechzig Prozent der Masernfälle in Deutschland bei Erwachsenen
zu finden. Das sind Menschen, die als Kind schon keine Masern mehr durchgemacht
haben, die nur eine oder gar keine Impfung erhalten oder auf diese Impfung
nicht angesprochen haben. Die können aber nun Säuglinge anstecken. Die
Säuglinge sind inzwischen nicht mehr geschützt. Der Nestschutz bei geimpften
Müttern ist unzureichend, der ist nur zureichend, wenn ich Masern selbst
durchgemacht habe in einer Gesellschaft, in der ich dem Masern-Virus immer
wieder begegne. Das ist nicht mehr gegeben und deshalb haben wir jetzt eine
gefährliche Situation. Masern sind für Erwachsene, grob gesagt, zehn Mal
gefährlicher als für Kinder. Das Risiko von Komplikationen und das
Sterblichkeitsrisiko für einen Erwachsenen ist unverhältnismäßig hoch. Darauf
haben wir schon sehr lange und konsequent hingewiesen, dass wir den Ehrgeiz
haben, keinen Jugendlichen ohne Masernimmunität ins Erwachsenenalter gehen zu lassen.
Das finden Sie in allen unseren, auch den früheren, Merkblattauflagen. Weil das
Risiko eines Erwachsenen, der an Masern erkrankt und vielleicht auf Reisen
durch ein weniger entwickeltes Land Kinder ansteckt, die daran sterben, nicht
zu verantworten ist. Und das ist nicht Sinn einer Kinderkrankheit. Auf der
anderen Seite haben wir ein Säuglingsrisiko. Wie Sie wissen, können Säuglinge
diese sogenannte SSPE entwickeln, eine gefürchtete Komplikation der
Maserninfektion, die immer tödlich endet nach einem über Monate bis Jahre sich
hinziehenden Verfall des Kindes. So dass wir die positiven Aspekte der Masern,
wie die durch Studien belegte Senkung der Allergierate, in der Bewertung
zurückstellen.
Aber Allergien sind
doch ein schwerwiegendes Thema bei uns.
Ja. 2016 sind in den USA 167 Kinder an Asthma gestorben. Und wenn wir an Asthma
denken, dann ist es nicht unwichtig, was diese Rate senken kann. Aber Masern
stehen dafür gar nicht mehr zur Verfügung, weil sie nicht ohne Grund bei uns
inzwischen so selten geworden sind. Heutzutage sind Masern in Deutschland eine Erkrankung von Säuglingen
und Erwachsenen. Beides ist nicht wünschenswert. Insofern raten wir als
Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland den Eltern dazu, die erste
Masernimpfung im zweiten Lebensjahr vorzunehmen. Und dann – wiederum ein
Standpunkt, den wir schon seit Jahren vertreten – raten wir dazu, nach
mindestens drei Monaten zu überprüfen, ob diese Impfung erfolgreich war. Wenn
sie erfolgreich war, dann ist die zweite Impfung überflüssig. Das gilt für über
90 Prozent der geimpften Kinder. Wenn sie nicht erfolgreich war, kommt es auf
die zweite Impfung an: Wenn ein Kind zweimal auf die Impfung nicht anspricht,
ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass es einmal eine Masernimmunität erwirbt.
Wir gehören also zu denen, die die Masernimpfung im frühen Kindesalter für
vernünftig halten, zumal die Forschung – und das ist neu – in den letzten
Jahren gezeigt hat: Im Unterschied zu all den Impfstoffen, die im ersten
Lebensjahr üblich sind, den sogenannten Totimpfstoffen, Tetanus, Diphterie und
so weiter, die die Immunentwicklung des Kindes stören können, ist es bei der
Masernimpfung so, dass sie Immunentwicklung fördern kann. Die Masernimpfung ist
eine Lebendimpfung, die das Immunsystem auch zur Entwicklung anregt, das zeigen
Forschungsergebnisse. Das tun die Masern noch viel stärker, aber wie gesagt,
sie sind auch gefährlicher. Insofern sind die problematischen Aspekte der
Impfung eigentlich gering, wenn sie denn an gesunden Kindern vorgenommen und es
beachtet wird, dass sie eine Lebendimpfung ist. Das heißt, dass das Kind bis 14
Tage nach der Impfung geschont und nicht ungewöhnlichen Anstrengungen und Belastungen ausgesetzt wird.
Dann kann ja die Impfpflicht für Masern nächstes Jahr kommen?
Das ist eine völlig andere Frage. Das müssen wir sehr unterscheiden. Wir sind klar gegen eine Impfpflicht in Deutschland. Was ich eben vorgetragen habe, ist unsere Auffassung zur Masern-Impfung. Ich bin nicht der Meinung, dass jeder Arzt, jede Mutter, jeder Vater so denken muss wie ich. Das ist einmal das erste. Ich bewege mich in einem freiheitlichen Land und Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden. Ich finde das ganz ungesund, wenn ich von meiner Argumentation überzeugt bin und sie anderen auch empfehle und 97 Prozent der deutschen Bevölkerung dieser Empfehlung folgen, dass ich deswegen jeden Andersdenkenden diskriminieren muss oder ihm das Recht auf seine Meinung nehme. Das zweite: Eine Impfpflicht ist ein Eingriff in mindestens zwei Grundgesetzartikel: Artikel zwei („Recht auf körperliche Unversehrtheit“, d.R.) und Artikel sechs („Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern“), weil sie also mit einer Impfpflicht für Hunderttausende im Medizinwesen einhergeht und den Eltern an einer zentralen Stelle das Selbstbestimmungsrecht über ihre Kinder nimmt.
Da legt aber unser Grundgesetz dem Staat hohe Hürden auf. Es müsste schon die Gesundheit vieler Kinder in Deutschland ganz konkret bedroht sein. Das ist aber nicht der Fall. Wir haben in Deutschland pro Jahr maximal ein bis zwei Todesfälle bei Masern. Wir haben aber auch Todesfälle durch die Masernimpfung, die auch nicht ganz zu vermeiden sind. Wenn wir relativ früh impfen und das Kind weist bestimmte Immundefekte auf, kann es sehr qualvoll an der Impfung sterben. Natürlich wird darüber in unseren Medien nicht berichtet. Sie können aber entsprechende Todesfälle 2014/15 beim Robert-Koch-Institut nachlesen.
Und dann ist es außerdem problematisch, dass es keinen Masern-Einzelimpfstoff mehr gibt, sondern nur einen Impfstoff, der unter anderem auch gegen Mumps impft. Eine problematische Impfung im frühen Kindesalter, zu der wir nicht raten, weil Mumps gegen Eierstockskrebs schützen kann und es keine Sterblichkeit durch Mumps gibt. Zusammengefasst: das Impfgesetz, so wie es geplant ist stellt einen Eingriff in die von der Verfassung garantierten Grundrechte dar, der unserer Überzeugung nach in Karlsruhe nicht Bestand haben wird. Wir bereiten deshalb eine Verfassungsbeschwerde mit führenden Fachleuten vor. Das geplante Gesetz würde faktisch eine Masern-Mumps-Röteln-Impfpflicht bedeuten. Sie können sicher sein, dass wir sehr schnell eine umfassende Impfpflicht bis zur Impfung gegen Grippe bekommen, nicht nur für Kinder, sondern auch für alle im Medizinberuf Tätigen und vielleicht für alle pädagogisch mit Kindern Tätigen, für alle Kinderkrippen-, Kindergarten-Mitarbeiter, flächendeckend, wenn erst einmal eine Impfpflicht etabliert ist. Das zeigen unsere Nachbarstaaten. Eine Impfpflicht nicht nur gegen Masern, sondern gegen Mumps würde ohne jede Begründung den Eltern an dieser Stelle das Selbstbestimmungsrecht rauben, wie damals in der DDR. Ich glaube, dass es der Politik gar nicht bewusst ist, wie sehr sie hier über den Rahmen unserer Verfassung hinausgeht. Und was es bedeutet, wenn die Eltern nicht mehr gefragt werden, welchen Impfschutz ihr Kind erhalten soll – dann können den Eltern bald noch sehr viel mehr Rechte weggenommen werden. ///
Stellungnahme der Anthroposophischen Medizin zum Thema Impfen
Website der Ärzte für individuelle Impfentscheidung
Zur Person
Georg Soldner, geboren 1958 in München, verheiratet, zwei erwachsene Kinder, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Projektmanager und Chefredakteur des Vademecum Anthroposophische Arzneimittel, zahlreiche medizinische Vorträge und Veröffentlichungen. Vorstandsmitglied Medizinisches Seminar Bad Boll, Vorstandsmitglied der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD), Mitglied der Kommission des Bundesamts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Leitung der Akademie Anthroposophische Medizin der GAÄD, München, Stellvertretender Leiter der Medizinischen Sektion der Freien Hochschule am Goetheanum in Dornach/Schweiz.