Lehmbruck und Rodin

Wilhelm Lehmbruck, Jünglingsbüste. Foto: Frank Vinken, Lehmbruck Museum Duisburg

Was Wilhelm Lehmbruck, Auguste Rodin und Joseph Beuys über die Plastik lehren. Notizen zu einer Ausstellung im Duisburger Lehmbruck Museum.

„Er treibt die Traditionen, die in dem Erleben am menschlichen Leibe bestehen, auf einen Höhepunkt hin, der einen Rodin noch übertrifft“ – mit diesen Worten hat Joseph Beuys bei seiner letzten Rede kurz vor seinem frühen Tod im Jahr 1986 seinen Lehrer Wilhelm Lehmbruck gewürdigt, dem er nach eigenen Worten den lebensentscheidenden Ruf zur Plastik verdankte. Es ist, als wenn die große Ausstellung „Schönheit. Lehmbruck und Rodin – Meister der Moderne“ in Duisburg diesen Hinweis von Beuys in die Sichtbarkeit bringen wollte – für jede Besucherin und für jeden Besucher im eigenen Anschauen zu erfahren.

Rodin war bereits ein Meister, als Lehmbruck, der aus einfachsten Verhältnissen in Duisburg-Meiderich stammte, kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert seine Kunstausbildung begann. Später siedelte er nach Paris über, wo seine reifen Werke entstanden. Die Ausstellung bringt beide Künstler mit ähnlichen Werken in einen Dialog: hier wie dort liegende, schreitende, badende oder sinnende Figuren, gleiche Motive und ähnliche kanonische Vorbilder, aber völlig andere Ausführungen. Rodin dabei immer der modernen Klassik verpflichtet, die zum Vollendeten, Universellen drängt, selbst noch in der Darstellung des vermeintlich Hässlichen; bei Lehmbruck dagegen wird alles zum individuell durchempfundenen Ausdruck. Erhabenheit bei Rodin, Ergriffenheit bei Lehmbruck.

Zum Mitfühlen gezwungen

„In ihm wird die Plastik nicht mehr nur das rein Räumliche, das Raum-Ausgreifende … seine Skulpturen sind eigentlich visuell gar nicht zu erfassen“, sagt Beuys über Lehmbrucks Schaffen. Obwohl sie im naturalistischen Sinne nicht echt aussehen, wirken seine Gestalten persönlich authentisch, unmittelbar nah. Man spürt sie, hört sie, empfindet sie.

Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür bietet der Vergleich von Rodins berühmtem „Denker“ mit einer motivisch ähnlichen Figur Lehmbrucks („Sitzender Jüngling“), die in der Ausstellung direkt gegenüber zu sehen sind: Während Rodins Denker, den Kopf aufstützend, in einem perfekt gebildeten Leib tiefes Nachsinnen verkörpert, strahlt die entsprechende Skulptur von Lehmbruck etwas aus, das man nur als Verzweiflung bezeichnen kann: Schultern, Nacken und Kopf tief heruntergebeugt, fast gebrochen wirkend, die rechte Hand zur Faust geballt – hier wurde alles versucht und nun bleibt nichts mehr zu hoffen. Die Intensität der Skulptur zwingt uns Betrachtende ins Mitfühlen. Unweigerlich denkt man an das eigene Schicksal Lehmbrucks , der unter fortschreitenden Depressionen litt und mit erst 38 Jahren seinem Leben selbst ein Ende setzte.

Soziale Plastik

Ebenso wie Beuys in seiner Rede von 1986 weist auch die aktuelle Duisburger Ausstellung auf eine der letzten biographischen Gesten Lehmbrucks hin: seine Unterzeichnung von Rudolf Steiners „Aufruf an das deutsche Volk und die Kulturwelt“ von 1919. Als der Aufruf erschien, musste allerdings hinter Lehmbrucks Namen ein Kreuz gesetzt werden – er hat sein Erscheinen nicht mehr erlebt.

Der Aufruf sollte an die versäumte Aufgabe Deutschlands erinnern, sich im Konzert der europäischen Nationen eine kulturelle Identität zu geben. Gleichzeitig ist er das erste öffentliche Dokument, in dem Steiner den Begriff des „Sozialen Organismus“ mit drei unterschiedlichen Sektoren ins Spiel brachte: einem wirtschaftlichen, einem politischen und einem geistigen System, alle drei sollen sich nach jeweils eigenen Prinzipien entfalten und wie ein organisches Ganzes zusammenwirken, als eine „soziale Plastik“, wie es Beuys später nennen würde.

„Ich möchte meinem Lehrer Wilhelm Lehmbruck danken“, begann Beuys seine Rede, als ihm 1986 der Lehmbruckpreis der Stadt Duisburg verliehen wurde. Ohne ihn wäre er nicht der Prophet der Sozialen Plastik geworden, als der er weiterwirkt. Inwieweit auch der Plastik von Lehmbruck eine spezifisch soziale Gebärde innewohnt, wäre eine lohnende Forschungsaufgabe, mit deren Bearbeitung man in der Duisburger Ausstellung beginnen kann.

Die Ausstellung in Duisburg ist noch bis zum 18. August zu sehen.

Letzte Rede von Joseph Beuys über seinen Lehrer Lehmbruck:

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.