Waldorf Campus Fellbach: Schule als Unternehmen

Immer neu das Gleichgewicht finden: Motiv am Eingang der Fellbacher Schule. Foto: Campus Waldorf Fellbach

Als Ursprungsregion der Waldorfpädagogik ist der Raum Stuttgart mit Waldorfschulen üppig ausgestattet. Warum noch eine weitere Waldorfschule in Fellbach gegründet wurde und weshalb man hier als Rechtsform ausgerechnet die gGmbH gewählt hat, haben wir uns vor Ort erklären lassen.

Eine Waldorfschule erkennt man oft bereits an den organisch-geschwungenen Bauformen. Auf dem Fellbacher Campus Waldorf ist das anders: keine weiche Waldorf-Architektur, keine Treppenaufgänge mit lasierten Wänden. Der Campus hat noch keinen eigenen Bau, und auch wenn dieser einmal stehen wird, soll er nicht die typische Anthro-Architektur zeigen. Bislang ist die Unterstufe der 2008 gegründeten Schule in spartanisch wirkenden Baracken und Containern untergebracht. Aber schon der Eingangsbereich mit zwei alten Sofas, Teppichboden und einer Holzskulptur hat den Charme des Improvisierten. Tücher, viel Farbe und Phantasie sorgen in den nüchternen Rechteck-Hütten für eine warme Atmosphäre, ob Klassenraum oder Mensa. Dagegen ist die Umgebung der Schule graue Vorstadt. „Zu uns kommen wegen dieses Umfelds viele Kinder und Jugendliche, die sonst nicht zu einer Waldorfschule finden würden“, erklärt Klassenlehrer Bernhard Kühne. „Ich war selbst Waldorfschüler, aber Jugendliche mit Migrationshintergrund habe ich in meiner Schulzeit nicht kennengelernt“, so Kühne weiter. „Hier in Fellbach sind alle sozialen Schichten und sehr viele Nationen vertreten.“ Multikulturalität prägt auch das Kollegium: mehr als ein Dutzend Kulturen und Nationen sind vertreten.

Knapp zwei Kilometer entfernt liegen Räume für die Oberstufenklassen in einem Industriegebiet. Hier wurde eine ganze Etage eines modern ausgestatteten Bürogebäudes angemietet. Dementsprechend kommt hier überhaupt nicht das Gefühl auf, in einer klassischen Waldorfschule zu sein. Anstelle von Klassenzimmern glaubt man Teambesprechungs-Räume zu betreten. In einer Aula, gleichzeitig auch größerer Konferenzsaal, probt eine neunte Klasse gerade ihr Klassenspiel. Neben dem Lehrerzimmer, das pädagogisch bewusst ohne Türen jederzeit für Begegnungen offensteht, befinden sich Rollschränke mit den Computern, die je nach Methodenbedarf in die Unterrichtsräume geschoben werden können.

Der von Wirtschaftsunternehmen geprägte Standort, wo bald auch der eigene Neubau stehen soll, ist Programm. Denn der „Campus Waldorf“ legt auf künstlerisch- praktische und berufsorientierte Ausrichtung wert. Der Werkunterricht mit Upcycling-Papier beispielsweise geht in die Produktion von Schulheften über, die von einer eigenen Schülerfirma vertrieben werden. Im Holzbereich werden Paletten zu Gartenmöbeln recycelt . Vor allem aber gibt es das Programm „SchoolGoesBusiness” (Schule trifft Beruf), eine Partnerschaft der Schule mit Betrieben im regionalen Umfeld, wo in insgesamt drei Trimestern Nachmittag-Praktika wichtige Erfahrungen auch jenseits des Schulbetriebs vermitteln. Seit Neuestem entsteht im Rahmen des europäischen Erasmus-Schüleraustauschs eine Kooperation mit einer Waldorfschule im spanischen Vitoria. Gemeinsam mit spanischen Schülern wird eine in Andalusien von Schuleltern zur Verfügung gestellte Oliven-Finca betrieben, das gewonnene Öl vermarktet wiederum eine Waldorf-Schülerfirma im Baskenland. All diese Projekte werden von den Schülern individuell und gemeinsam in entsprechenden Portfolios für die nachschulischen Ausbildungen dokumentiert.

Schule als gGmbH

Unternehmerisch geprägt wirkt auch das institutionell-rechtliche Selbstverständnis der Fellbacher Schule. Anders als fast alle anderen Waldorfeinrichtungen ist sie nicht durch einen Trägerverein mit seinem haftenden Vorstand geführt, sondern durch eine gemeinnützige GmbH mit einer verantwortlich haftenden Geschäftsführung. Die Gründungsinitiative hatte diese Form bevorzugt, weil sie auf effiziente Entscheidungen setzen wollte – ohne vielleicht die weittragenden Konsequenzen dieser Rechtsform zu überblicken. „In den meisten Fällen führt die durch den Vereinsvorstand angestellte Geschäftsführung aus, was die Konferenz beziehungsweise der Vorstand beschließen. Die rechtlich haftende Verantwortung jedoch trägt der Vorstand für den Trägerverein. Der klare Vorteil in unserem Modell sind die schlanken Entscheidungswege, damit sich die Waldorfpädagogik auch zügig weiterentwickeln kann, wenn die Pädagogen es wollen“, erklärt Geschäftsführer Ulrich M. Kleber, der seit mehr als vier Jahren die Schule führt. „Mein Bild aus vielen Schulberatungen heraus ist, dass eine Waldorfschule eigentlich auch ein privates Unternehmen im Kulturleben darstellt. Die Qualität unserer Arbeit bildet sich zudem in den Schülerzahlen ab“, ist Kleber überzeugt. Aber kommt es nur auf den wirtschaftlichen Erfolg an? „Ganz sicher nicht“, sagt Kleber, „ im Gegenteil, es wäre sogar eine Art Sollbruchstelle, wenn eine haftende Geschäftsführung vom Kerngeschäft, also hier der Waldorfpädagogik, wenig Ahnung hätte und nur auf wirtschaftlichen Erfolg aus wäre.“ Dieses Problem drohe allerdings auch bei einer Vereins-Vorstands-Konstruktion. Oft seien die Vorstände mit Menschen ausgestattet, die wirtschaftliche oder auch rechtliche Erfahrungen haben, aber die Waldorfpädagogik in ihren tieferen Belangen nicht wirklich kennen. Insbesondere in Fragen der Personalentwicklung komme es hier häufig zu Reibungsverlusten. Demgegenüber versteht sich Kleber zusätzlich als „pädagogische Geschäftsführung“. Ihm zur Seite steht eine Schul- und Geschäftsführungskonferenz aus sieben Menschen, die aber nicht, wie bei Vereinen, von den Mitgliedern des Trägervereins gewählt, sondern von der Geschäftsführung konsensual durch die genannte Konferenz berufen werden. Dieses Gremium hat eine hohe Mitsprache und Beratungs-, aber keine rechtlich-haftende Entscheidungsfunktion für die gGmbH.

„Steiner hat ja sinngemäß auch gesagt, in der Schule solle nichts herrschen, was nicht auch im Unterricht lebt. Und da bleibt vielleicht ein kleiner Widerspruch, denn ich bin selbst nicht mehr als Pädagoge im Unterricht tätig“, sagt Kleber. „Ja, du unterrichtest zwar nicht, bist aber in der Schule umfassend präsent!“, widerspricht Bernhard Kühne, „und du schaust auch regelmäßig in den Unterricht hinein.“ „Ja, das habe ich mir tatsächlich bei Amtsantritt vom Kollegium genehmigen lassen, jederzeit in den Unterricht hineinzukönnen, auch unangemeldet, gewissermaßen als „friendly visitor“, wie die Supervision in den amerikanischen Anfängen genannt wurde. Das soll keine Kontrolle sein, ich will vielmehr das Kerngeschäft sinnlich vor mir haben, um auch die besonderen menschlichen Verantwortungen im schulischen Alltag authentisch vertreten zu können. Auch für den Fall, dass eventuelle Klagen von Elternseite einlaufen, bin ich so viel näher am eigentlichen Geschehen.“ An der Schule herrsche das Prinzip der „offenen Türen“.

Also dann, Kontrolle ist gut, aber Vertrauen ist besser. Die Probe auf’s Exempel wird sofort gemacht, indem der angereiste Journalist nach kurzem Anklopfen den Eurythmieunterricht, das Erzählen in der dritten Klasse oder das Werken anschauen darf. Die gelassene Reaktion der Schulkinder zeigt in jedem Fall: das ist hier nichts Besonderes, sondern bekannte Praxis.

Konferenz und Pädagogik

Gewohntes in Frage zu stellen und Neues zu probieren scheint hier ein Grundmuster einer „Waldorfpädagogik im Aufbruch“ zu sein. Das gilt gerade im Pädagogischen selbst. Bernhard Kühne erzählt: „Es gibt Tage, da sehe ich gleich morgens: vergiss alles was du vorbereitet hast; ich kann jetzt nicht den Morgenspruch sprechen, Flöte spielen, dann erzählen und in die Heftarbeit gehen – das wird nicht wirklich sinnvoll sein. Dann gehe ich einfach mit den Kindern raus, im Sinne des Morgenspruchs, „Ich schaue in die Welt…“, so der Klassenlehrer. „Ich lasse die Kinder bestimmte Dinge sammeln, und weil wir gerade Schreiben lernen, schreiben wir beispielsweise Buchstaben in den Sand. Dann kommen wir zurück und frühstücken je nach Jahreszeit die Produkte der Natur. Und am Ende haben wir an einem solchen Tag mehr gelernt, als wenn wir’s eine ganze Woche stur nach einem Lehrplan gemacht hätten.“ Auch von einer Neuerung in den sozialen Abläufen erzählt Kühne: dem jahrgangsübergreifenden Wochenbeginn und dem Wochenabschluss, wo die Schüler selbst moderieren und darstellen, was sie gearbeitet haben. „Diese Rückblicke sind auch ein geeigneter Ort, Konflikte frühzeitig anzusprechen“, ergänzt Kühne. Ein wichtiges Instrument ist auch das selbstmoderierte Schülerplenum der Oberstufenklassen, wo gewählte Schüler, ein Vertrauenslehrer und die Geschäftsführung regelmäßig zusammenkommen und sich in der Selbstverwaltung üben. Dafür werden sie auch in jährlichen Fortbildungen weiterqualifiziert.

Donnerstags gibt es für die LehrerInnen keine klassische Allgemein-Konferenz, die oft von organisatorischen Dingen überlagert ist, sondern eine reine Fortbildungsarbeit. „Auch Rudolf Steiner wollte ja die Lehrerkonferenzen als ein „fortwährendes Seminar“ verstanden wissen“, sagt Ulrich Kleber. Bernhard Kühne erzählt, dass ein besonderes Thema in letzter Zeit die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Strafe gewesen ist: „Wir wollen in unserer Pädagogik den Begriff der Strafe und das inflationäre und pädagogisch nicht ganz gewaltfreie Wörtchen ‚muss’ überwinden“, erzählt der Pädagoge. „Manchmal sollen Lehrer selbstverständlich die Möglichkeit zu Sanktionen haben, im Sinne von Wiedergutmachungen, aber der Begriff Strafe hat heute in der Pädagogik für uns nichts mehr verloren.“ Insofern wurde auch die häufig stigmatisierende Titulierung „schwieriges Kind“ aus der Binnenkommunikation der Schule ersatzlos gestrichen. „Wir nennen es dann eine pädagogische Situation, mit der wir Erwachsene mehr oder weniger pädagogische Mühe haben“, so Kühne. Ähnlich der Begriff der „Erziehung“: „Auch das haben wir auseinandergenommen: Erziehen kommt von Ziehen – wenn das ein Gärtner mitten im Wachstum mit seinen Pflanzen machen würde, was käme dann außer Flurschaden dabei heraus?“

Gärtner ziehen nicht, sondern sie sorgen für die Bedingungen von Entwicklung und Wachstum. Und in diesem Sinne sind Pädagogen keine Erzieher, sondern Entwicklungshelfer und Künstler der Ermöglichung. Noch allzu oft will die Institution Schule aber die Schüler in festgelegte Gesellschaftsnormen „hinein-ziehen“. Am Kontrast des „Campus Waldorf“ in Fellbach kann man eine Ahnung davon gewinnen was möglich wird, wenn als Unterricht weder Lehrplan noch Lehrstoff, sondern das ganzheitliche Leben selbst zum Maßstab des Lernens wird. ///

Mehr Informationen: www.campuswaldorf-fellbach.de

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.