30 Jahre Mauerfall: Es begann mit Kerzen und Gebeten

Magdeburg im Herbst '89 - Foto: Wenzel Oschington

9. November – 30 Jahre Mauerfall. Unser Autor blickt als Westgeborener, der nach der Wende in den Osten zog, auf ein wechselvolles und vielschichtiges Kapitel deutsch-deutscher Geschichte.

Von Hans Bartosch


Am 9. November fiel keine Mauer, nirgendwo. Es verplapperte sich an jenem Tag ein Minister. Und an der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße in Berlin reagierte ein Offizier der Grenztruppen auf eigene Verantwortung. Ab dann strömten Millionen von Menschen über eine vorher unüberwindlich erscheinende Grenze.


Jener 9. November wäre ohne den 9. Oktober allerdings gar nicht möglich gewesen. Am 9. Oktober 1989 umrundeten viele Zehntausende Bürgerinnen und Bürger Leipzigs ihren Innenstadt-Ring, schweigend und mit Kerzen. Und die auf den Straßen aufmarschierten Einheiten und Truppen reagierten anders als ihre Kollegen fünf Monate vorher in Peking. Hoffentlich wird dieses Datum des 9. Oktober letztlich in den Geschichtsbüchern landen.
Und auch hier ist es mehr als ein einzelnes Datum. Der Mut der Bürgerinnen und Bürger Leipzigs und vieler anderer Städte der damaligen DDR war über Monate gewachsen. Hinzu kam die Gunst eines bemerkenswerten sowjetischen Generalsekretärs mit Namen Gorbatschow – und eines zugleich knochenkonservativen wie hochinspirierten polnischen Papstes Wojtyla.


Vor 30 Jahren. Was genau damals dort geschah, dies mögen diejenigen erzählen, die dabei waren oder zumindest in der Nähe. Denn ich selbst bin Westgeborener, auch wenn ich nun seit acht Jahren als evangelischer Krankenhausseelsorger in Magdeburg lebe und arbeite. Die bislang einzige friedliche Revolution der deutschen Geschichte passierte ohne uns Westdeutsche. Mir bleiben die tiefe Verneigung und das große Staunen.


In Magdeburg gab es am Vormittag des 9. Oktober Durchsagen in den Schulen und in den großen Schwermaschinenbetrieben: „Geht nicht in den Dom zum Friedensgebet. Dort trifft sich die Konterrevolution. Und es wird zu Gewalt kommen. Wir werden heute durchgreifen müssen.“


Dompredigerin Zachhuber und Domprediger Quast luden seit Monaten zum montäglichen Friedensgebet am eindrücklichen (Anti-) Kriegsdenkmal von Ernst Barlach im Dom. Es kamen Fromme und Unfromme, Ausreisewillige und Bleibenwollende, über Monate.
Am 9. Oktober gingen sie, weit über 5000 Menschen, erstmalig und nach dem Friedensgebet, mit Kerzen hinaus auf die Straßen. „Keine Gewalt“ skandierten sie zitternd. Zwei Wochen später, am 23. Oktober, kam es nach dem Friedensgebet zur ersten Demonstration über Magdeburgs Hauptstraße, den Breiten Weg. Mit Kerzen. Trotz immer noch bereitstehender Truppen.

Ein damaliger Bereitschaftspolizist erzählt mir, wie sie in den Kasernen scharf gemacht wurden, über Wochen, und wie neue Kugelwesten aus Berlin geliefert wurden. Er wusste, dass seine Schwester demonstriert. Sie wusste, dass ihr geliebter Bruder kaserniert und abgeschirmt war.

Eine Wiedervereinigung fand nicht statt

Dies alles sind Erfahrungen, vor denen ich mich dauerhaft zu verneigen habe, als westgeborener Mensch. Ich habe mit dafür Sorge zu tragen, dass solche Geschichten im Vordergrund bleiben, die von Courage und wachsendem Gemeinschaftssinn erzählen.

Ich sehe in dem wunderschönen Schwarz-Weiß-Fotoband Ein Land vor langer Zeit von Matthias Pavel die Fotos des gesamten Jahres 1989 aus Magdeburg: Bilder von besetzten Wohnungen im Gründerzeitkiez am Hasselbachplatz, von sagenhaften wilden Konzerten in Jugendclubs und von diskutierenden, sehr normal aussehenden Menschen in altmodischen Kirchsälen. Und auch ganz normaler Alltag mit Einkaufen, Schulweg und Schwimmbad. Aber sichtbar wird ein Land, das aufbricht. Genau diese Geschichten und diese Bilder will ich mit dem gebührenden westgeborenen Abstand hüten, diese Monate vor der Wiedervereinigung.


Moment, die – was?

Nein, Deutschland wurde keineswegs wiedervereinigt. Nach Artikel 23 traten fünf Bundesländer und die Ost-Hälfte Berlins der bereits 40 Jahre alten Bundesrepublik Deutschland bei. Möglicherweise war diese Form des Beitritts unausweichlich, weil zu vieles ökonomisch zu fragil geworden war in der DDR, etwa des teuren Grenz- und Überwachungsregimes wegen. Außerdem hatte die Osthälfte 40 Jahre lang die sowjetische Besatzung auch finanziell zu tragen, während wir in der Westhälfte von US-amerikanischer Unterstützung umfänglich profitierten. Dies ist umso schiefer, als der böseste Krieg der Weltgeschichte, nämlich der Überfall auf die Sowjetunion 1941, durchaus gesamtgroßdeutsch initiiert wurde. „Die haben doch die Hälfte aller Gleise abgebaut und die Hälfte aller Maschinen abtransportiert. Wir mussten von Anfang an wahnsinnig improvisieren. Das war oft furchtbar. Aber, wissen Sie was? Wir haben daher im Osten eine sagenhafte Improvisationsgabe. Das haben wir euch Westlern über Generationen voraus.“ So erzählt mir ein alter Ingenieur, der rumgekommen war in der Welt und ideologiefrei geblieben ist.
„Die DDR-Zeit“. „Die Wende“. „Nach der Wende“. So teilen die meisten Menschen, auch jüngere, ihre eigenen Erzählungen oder die Erzählungen ihrer Familien weiterhin ein. Für Opfer des SED-Regimes bleiben solche Einteilungen anders geprägt. Deren Geschichte – etwa diejenige der Werkhofjugendlichen, der durch staatliche systematische Zersetzung innerlich Zersetzten, der Dopingopfer im Sportwesen und der von der Westgrenze Zwangsumgesiedelten – kommt in der gesamtdeutschen Großerzählung erschreckend wenig vor, nachdem sie vor 1989 jahrzehntelang ungerechterweise immer als politisch „rechts“ verdächtigt wurde.

Alles wurde „gewendet“

Was aber lerne ich Westgeborener aus der ansonsten weitverbreiteten Dreiteilung: „Die DDR-Zeit“, „Die Wende“, „Nach der Wende“? Erstens habe ich ernst zu nehmen, dass „Wende“ ein Understatement ist für das, was unendlich viele Menschen so erfahren haben: Alles wurde gewendet, von innen nach außen, von links nach rechts, von oben nach unten, und dann gleich mehrfach und hochunübersichtlich. Die Unterrichtsstoffe hießen anders (außer in den im Osten kontinuierlich hervorragenden mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern), komplett alle Formulare, zahllose Straßenschilder, alle Briefmarken, alle Postwege, alle Fahrplanaushänge, alle Usancen beim Autokauf oder bei der Wohnungsvermietung, alle halbbewussten Gesten beim Restaurantbesuch. Und an der Spitze dieser Verantwortlichen standen reihenweise „Wessis“. Die, die es wussten. Oder die so taten. Großartige und Glücksritter.


„Meine Eltern waren in jenen Jahren gar nicht ansprechbar. Die wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Die ließen alles laufen. Wir hatten eine tolle Kindheit, volle Freiheit. Aber heute merke ich, dass ich damals ganz viel davon aufgesogen habe von den Eltern, wie die schwankten. Und ich bin mir selber daher manchmal im Wege, so ohne Boden. Andererseits kann mir bis heute niemand mit irgendetwas kommen. So eine innere Freiheit, die geht nicht mehr weg“, sagt mir eine 40-jährige Verkäuferin.Ich stehe oft staunend vor solchen Erzählungen. Weil ich es vergleichsweise gemütlich hatte, dort „drüben“ im Rheinland. Meine Krisen waren persönliche, aber keine Wenden. Für mich änderten sich nur die Postleitzahlen.
„Und dann die ganze Reklame. Alles immer Werbung. Immer sich selbst vermarkten. Das ist doch im Grunde nichts anderes als was wir in der DDR die ‚Rotlichtbestrahlung’ nannten, den ständigen Unterricht in Marxismus-Leninismus. Immerhin haben die uns da beigebracht, wie Kapitalismus ging. Und komisch, der war dann wirklich so, als der zu uns kam,“ erzählt schmunzelnd eine Ärztin.


Aus „Wende“, so wird mir immer klarer, wurde sehr schnell „Nach-wende“. Und die war für viele nicht schön. Dass daraus das Klischee des Jammerossis wurde, schmeckt bitter: „Na, und dann haben sie mir immer beim Frühstück eine Banane hingelegt, die Kollegen. Die fanden das lustig. Und uns Frauen haben sie dann oft mit Stirnrunzeln gefragt, ob wir nicht alle Rabenmütter seien“, so berichtet mir eine thüringische Finanzdienstleisterin im Rückblick auf ihre Zeit im Hamburg der Neunziger Jahre.


Für viele hier im Osten ist daher immer noch „nach der Wende“. „Ich habe vier Berufe, habe zig Stellen gehabt, war nie arbeitslos. Bin ich stolz drauf. Es kommt doch immer anders, als du planst. Musst du mit klarkommen. Hilft dir ja auch keiner, außer die Familie, wenn die funktioniert“, weiß ein Kraftfahrer zu berichten.


Ich lerne als westgeborener Mensch, dass es andere Kompetenzen in Ostdeutschland gibt angesichts von Diskontinuität und Fragilität. Selbst wenn geklagt und „gejammert“ wird (als ob wir das im Westen nicht genauso tun!), geht die Geschichte doch oft weiter mit neuen Selbst-Aufrichtungen. Diesen Respekt vor Ostdeutschland und seinen Menschen möchte ich zum 9. November und zum 9. Oktober mit Nachdruck aussprechen.

Der näher gerückte Osten

Für mich persönlich hat jenes Epochenjahr 1989 langfristig eingebracht, dass ich Europa sukzessive wieder als Einheit sehen konnte. Eine„Reisefreiheit“, für deren Gebrauch ich allerdings erst Mut zu fassen hatte.


Mittlerweile weiß ich, dass die Mauer uns Westgeborene auch davor bewahrt hat, allzu nah an den realen Schreckens-Orten wie Auschwitz, Belzec, Warschau und Minsk zu wohnen. Das war „Ostblock“. Selbst für uns Friedensbewegte lag das sehr weit weg und gerann zu Metaphern. Meine erste Ost-Reise ging 1997 nach Auschwitz.


Diese Reise verband mich auch mit Krakau, der ersten östlichen Großstadt, die ich kennen- und lieben lernte. Dass Budapest, Bukarest, Krakau und Bratislava genauso viel zeigen und bieten wie die allfälligen Metropolen des Westens – das hat mich ebenfalls erschüttert.
Und auch die deutsche Geschichte. Sie reicht eben bis Allenstein und Siebenbürgen und Lemberg. Die Amputation all dieses „Ostens“ hat uns Westdeutschen nicht gutgetan. Viel zu schnell haben wir diese Geschichten den Reaktionären überlassen.


Nun, und wo wir vom 9. November sprechen: Die europäische Judenheit lebte bis zur Shoah vor allem in jenem weiten Streifen zwischen Riga und Dnipro, Lodz und Iaşi. Wir Deutschen haben sie getötet, auch unsere konkreten Vorfahren in unseren Familien. Dies war für mich erst spürbar, als ich vor Ort war. Den 9. November sollten wir daher unbedingt primär festhalten als schamhaft schweigenden Tag, an dem wir an die Reichspogromnacht erinnern, an ihre Täter und ihre Opfer. Der 9. November 1938 war die Generalprobe für das enthemmte und systematische Töten im tiefen Osten Europas.

In Ostdeutschland, und nun möge sich der Kreis schließen, war aufgrund der Zugehörigkeit zum Ostblock diese Geschichte der „Bloodlands“ (Timothy Snyder) näher – trotz des hässlichen Antisemitismus der DDR-Obrigkeit.


Nun haben in Ostdeutschland ähnliche Wenden, Erschütterungen, Friktionen stattgefunden wie in den ostmitteleuropäischen Ländern. Zunächst 1989 und dann in all den Jahrzehnten danach. Schließlich auch mit hässlichen Erscheinungen, von der AfD über Kaczynski bis zu Orban. Jedweder Blickpunkt auf den deutschen wie den europäischen Osten allerdings, der allein vom Westen aus schaut und urteilt, wird diese gravierenden politischen Probleme nicht lösen, sondern eher verhärten – und zum Beispiel unterschlagen, dass in Ostdeutschland die (wessi-geführte) AfD durchaus noch deutlich von der Mehrheit entfernt ist und dass ganz Deutschland in der Gefahr steht eines neuen rechten Extremismus.
Am 9. Oktober und an all den Novembertagen dürfen wir uns herzlich freuen. Es ist ganz viel Gutes passiert. Es ist ganz viel Saat ausgebracht worden, die wir gemeinsam dringend nutzen sollten. Und die wir sogar dringend brauchen, um den Höckes und Kalbitzens gegenüber deutlichste Grenzen hochzuziehen.


Ja, und manchmal sind es Kerzen, sind es Gesänge und sind es Gebete. Diese Lektionen sollten wir alle miteinander hüten, ehren und weiterentwickeln. ///

Ein Artikel aus der Novemberausgabe der Monatszeitschrift info3. Mit einem Abonnement verpassen Sie keine Ausgabe mehr.

Zum Autor: Hans Bartosch wurde in Duisburg geboren. Er lebt und arbeitet in Magdeburg als Krankenhausseelsorger. Von ihm erschien im Info3 Verlag das Buch: Was noch erzählt werden muss. Zeitgeschichte am Krankenbett.

Das Foto zu diesem Artikel stammen von Matthias Pavel, a.k.a. Wenzel Oschington und sind erschienen in dem Bildband: Matthias Pavel: Ein Land vor langer Zeit
Hardcover 24 x 19 cm, 368 Seiten, ISBN: 978–3–938247–19–8, 34,80 Euro
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Über den Autor / die Autorin

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