Kann gendern was verändern?

Kann gendern was verändern - Info3, Juni 2019. © Info3 Verlag

Die Akzeptanz für Spannweite und Varietät von Geschlechteridentitäten ist in den letzten Jahren sehr gewachsen. Gleichzeitig nehmen sprachliche Veränderungen durch gendergerechte Formulierungen zu – verbunden mit Hoffnungen ebenso wie mit Empörungen.

info3 hat unter anderem Meinungen aus dem anthroposophischen Umfeld gesammelt und sie in den Kontext der Chancen und Schwierigkeiten beim Thema Gender und Sprache gestellt.

In einem Text des Lyrikers Bastian Böttcher mit dem Titel Die Macht der Sprache heißt es:

„Und erweitert der Mensch seine sprachlichen Möglichkeiten, dann erweitert die Sprache die menschlichen Möglichkeiten. Das macht die Sprache – die Macht der Sprache.“ Sie leitet, lenkt und hilft, differenziert zu denken. Wie verstehen wir beispielsweise folgenden Text? Welche Bilder entstehen hier beim Lesen?

Ein Vater fuhr mit seinem Sohn im Auto. Sie verunglückten, der Vater starb an der Unfallstelle. Der Sohn wurde schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert und musste operiert werden. Ein diensthabendes Mitglied des ärztlichen Personals eilte in den OP, trat an den Operationstisch heran, auf dem der Junge lag, wurde kreidebleich und sagte: „Ich bin nicht imstande zu operieren. Dies ist mein Sohn.“

Vielleicht haben Sie beim Lesen einen Moment gestutzt, es handle sich um einen Fehler im Text. Denn für die meisten drängt sich hier wahrscheinlich eher das Bild eines Arztes als einer Ärztin auf, und dann wirkt die Darstellung unstimmig. Was für den Arztberuf gilt, gilt auch für Architekten, Ingenieure, Richter und manche andere. Viele Kontexte und Bilder in unseren Köpfen sind klassischerweise männlich besetzt – gewisse andere hingegen weiblich – obwohl sich die gesellschaftliche Realität weiterentwickelt hat. Um die meist nicht gerechtfertigten Asymmetrien zwischen den Geschlechtern in ein Gleichgewicht zu bringen, fordern viele Stimmen die Sichtbarmachung des großen Anteils der nicht-männlichen Bevölkerung in der Sprache. In Texten für den öffentlichen Gebrauch wird daher inzwischen in unterschiedlichen Formen „gegendert“, werden maskuline Formen wie „der Bürger“, „der Leser“ oder „der Student“, weil sie für manche nur Männer repräsentieren, durch alternative Formen ersetzt. Nebenbei: Seit diesem Jahr gilt außerdem für öffentliche Ausschreibungen die Pflicht, Angebote und Gesuche auch mit der sogenannten dritten Kategorie „divers“ zu kennzeichnen. So findet sich etwa auch bei den Stellenanzeigen dieser Zeitschrift immer häufiger die Formulierung: „Gesucht wird ein/e Geschäftsführer*in (m/w/d) in Vollzeit.“

Auf der Suche nach respektvoller Kommunikation

Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit und bei Publikationen hat sich zum Beispiel der Bund der Freien Waldorfschulen für den Genderstern entschieden. Erstens, so Vorstand Henning Kullak-Ublick, weil er „hoffe, dass sich dadurch niemand mehr ausgegrenzt fühlt“. Zweitens sei „der Genderstern sprachlich flüssiger als die Verdoppelung vieler Substantive mit zwei Geschlechtsbezeichnungen.“ Nicht selten schildern insbesondere Menschen, die im Öffentlichkeitsbereich arbeiten, das Problem der Vereinbarkeit von sichtbarer Vielfalt in der Sprache und ästhetischer und praktischer Umsetzbarkeit. Auch bei info3 stocken wir noch beim Sprechen über Leser-Innen oder schmunzeln, wenn wir selbst über Formulierungen stolpern, die wir nicht ohne Zungendreher ordentlich gegendert bekommen.

„Gendern macht die Sprache sperrig“, gibt dagegen Die Drei-Redakteur Claudius Weise zu bedenken. Das Gendern sieht die anthroposophische Monatszeitschrift als „Anbiederung an den Zeitgeist“, die man nicht mitmachen wolle. Dagegen bemühen sich viele Kommunizierende, Respekt vor allen Lebenssituationen und Identitätsformen durch Gendern sprachlich auszudrücken. Die Alanus-Hochschule teilte uns Folgendes zu ihrer Praxis mit: „Unserem Rektor Prof. Dr. Hans-Joachim Pieper liegt eine gendersensible Sprache sehr am Herzen, als Institution sieht sich die Alanus Hochschule darüber hinaus einer besonderen Verantwortung zur Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet (…) In unserer Handreichung zum Gebrauch geschlechtergerechter Sprache verpflichten wir uns auf geschlechtergerechte Sprache, ohne eine bestimmte Form (wie /*_/Paarform, Binnen-I) vorzugeben.“ Antje Tönnis von der GLS Bank berichtet zum Thema geschlechtergerechte Sprache: „Das machen wir seit zwei Jahren, um möglichst alle Geschlechter anzusprechen. Dafür haben wir viel Zustimmung erhalten, aber auch einige richtig fiese Briefe bekommen. Vom ‚Genderwahnsinn‘ bis zur ‚Verstümmelung der deutschen Sprache‘ haben uns Vorwürfe erreicht. Wir halten aber daran fest. Wobei wir bemerken, dass wir auch intern das Thema noch viel mehr diskutieren müssen. Aber die Sprache ist auf jeden Fall immer wieder ein guter Anstoß dafür.“ Was wird aber alles angestoßen? An welche Hoffnungen und Ängste rührt das Thema der gegenderten Sprache? Und nebenbei: muss Sprache nicht auch mal holprig und stotterig sein, um zu zeigen, wo das Problem liegt? Wie sollte es anders gelingen, wenn sich Menschen Platz verschaffen, denen vorher weniger Raum zustand als der weißen, männlichen Norm.

Eine soziale Frage der gendergerechten Sprache

Die Diskussionen führen zu tiefer liegenden persönlichen und gesellschaftlichen Fragen. Gibt es ein vermeintlich natürliches Sein hinter der Sprache, das sich nur auf einer sprachlichen Folie spiegelt? Inszeniert oder generiert Sprache vielleicht erst so etwas wie Genderidentität? Nehme ich mich als Frau oder als Mann wahr, weil ich es bin? Was steckt für mich persönlich hinter diesen Rollen und Zuschreibungen und was folgt daraus?

Im zurückliegenden Europawahlkampf ersetzten beispielsweise Bündnis90/Die Grünen auf Plakaten das Motto der Brüderlichkeit durch Schwesterlichkeit: ein Zeichen für sozio-ökonomische und kulturelle Gleichstellung und Selbstbestimmung der Frauen. Diese weibliche Version eines der drei Leitmotive der Französischen Revolution stellt gleichzeitig die Frage nach Zusammenhägen zwischen gesellschaftlichen patriarchalen Strukturen und der Sprache. Wie sehr repräsentiert Sprache im Denken eingeprägte traditionelle Dominanzverhältnisse? Unterwegs mit diesen Fragen sollten traditionelle Rollenbilder, wenn sie ungerechte oder auch nur unbewusste Verhältnisse reproduzieren, unbedingt immer hinterfragt bleiben und zu Veränderungen anregen.

Mit bröckelnden Strukturen wachsen auch Unsicherheiten, bis eine neue respektvolle Kommunikation gefunden wird. Es gibt beispielsweise Bedenken, der Fokus könne fälschlicherweise vom Menschen auf die bloße Geschlechtlichkeit verschoben werden.

Vielfalt einerseits oder Menschlichkeit andererseits?

Handelt es sich bei Binnen-I, Gender-*, Doppelnennung et cetera doch nur um eine rein „äußerliche und intellektualistische Art des Umgangs mit der Sprache“, wie Claudius Weise zu bedenken gibt? Wird der wesentliche Teil des Menschen ausgeblendet? „Die Ambivalenz besteht für mich in der Frage, ob das Gendern den Blick nicht noch viel mehr auf das Geschlecht als auf den geistigen Wesenskern lenkt,“ so Kullak-Ublick, denn er sehe „das eigentliche Wesen eines Menschen in seinem die Geschlechtlichkeit transzendierenden geistigen Sein“. Gendern steht also trotz der klaren Betonung des menschlichen Respekts unter Verdacht, Sprache zu übersexualisieren. Doch um auf ein Problem der Sprache aufmerksam zu machen, muss es irgendwie benannt werden. So stellt sich zu allererst die Frage nach der Sprache an sich.

Sprache hängt in unserer aktuellen Gesellschaft eng mit Identität zusammenhängt und deshalb ist es wichtig, die vielfältigen Geschlechteridentitäten anzuerkennen und die Tragbarkeit der Sprache mit Blick auf Gendervielfalt zu überprüfen. Also auf jeden Fall gendern? Oder verhält es sich so wie Die Drei meint: „Wer gendert, vertraut nicht darauf, dass das Allgemein-Menschliche mitgedacht wird, sondern will es äußerlich fixieren.“

Aus der Linguistik gibt es interessante Beobachtungen und Meinungen zum Beispiel zum generischen Maskulin („der Leser“). Die SprachforscherInnen Peter Eisenberg und Luise F. Pusch streiten über die Frage, ob das generische Maskulin als Reflex patriarchaler Strukturen gewertet werden kann oder nicht. Beide stehen nicht hinter der gängigen Auffassung, die Frauen seien doch mitgemeint. Pusch und Eisenberg kommen dennoch zu unterschiedlichen Schlüssen. Der Sprachwissenschaftler bemerkt über Personenbezeichnung wie „der Bäcker“, damit sei niemand mit seinem Geschlecht gemeint, sondern die Person, die rein über ihre Tätigkeit bezeichnet wird. Die Linguistin argumentiert dagegen, dass die Grammatik von Männern für Männer gemacht sei, da ja 99 Sängerinnen und ein Sänger zusammen eine Gruppe von 100 Sängern ergeben. Die Frauen fielen also schlichtweg heraus. Während Eisenberg die Neutralität des Sprachsystems betont, das auf grammatikalischer Ebene angeblich keine männlichen Herrschaftsstrukturen beinhalte, stellt Pusch fest, dass Menschen Sprache konkret statt generisch wahrnehmen und dass deswegen Frauen und Transsexuelle berechtigterweise nach Sichtbarkeit verlangen. Wie wenig die gängige Aussage funktioniert, dass sich doch Frauen immer bitte schön mitgemeint fühlen sollen, hat sie mit einem genialen Buchtitel gezeigt, der die Verhältnisse einfach mal umdreht und der da lautet: Alle Menschen werden Schwestern.

Haltung einnehmen und Wahrnehmung wertschätzen

Für die Praxis gendersensibler Sprache gibt es momentan keine offizielle Empfehlung. Der deutsche Rechtschreibrat vermerkte nach einer Besprechung im November letzten Jahres, die im Gang befindliche Entwicklung „soll nicht durch vorzeitige Empfehlungen und Festlegungen beeinflusst werden.“ Es wird weiter beobachtet und diskutiert.

Wichtiger jedoch als eine „politisch korrekte“ Form blind anzuwenden scheint die Fähigkeit, eine offene und respektvolle Einstellung zu entwickeln und für sich eine passende Form zu finden, die auch noch authentisch bleibt. Wichtig ist, Wahrnehmung und Wirkung von Sprache dabei nicht zu ignorieren und sich insbesondere mit der Haltung auseinanderzusetzen. Denn besonders diese zählt in der Kommunikation, in der jeweils auf das Bedürfnis der anderen Person eingegangen und ihr eigenes Identitätskonzept respektiert werden sollte. Kullak-Ublick betont dazu: „Den Zweifeln an der Geschlechterbetonung steht allerdings entgegen, dass es unbestreitbar Diskriminierungen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit gibt und wenn das Gendern dazu beiträgt, diese zu überwinden, ist das bereits Rechtfertigung genug.“

Die eingangs gestellte Frage nach der Macht der Sprache ließe sich mit Blick auf ein Zwischenresümee aus einem Forschungsüberblick vorerst wie folgt beantworten: „Es ist nicht die Sprache per se, sondern deren Wahrnehmung und der Sprachgebrauch, die den Eindruck des Vorherrschens des Männlichen entstehen lassen.“[1]Diese Beobachtung scheint noch immer aktuell, um Bedürfnisse und Ängste, die beim Thema Gender und Sprache auftauchen, zu verstehen. Es geht mehr um Wahrnehmung statt um Struktur und um das Problem der Deutung statt um vermeintliche Naturgegebenheiten. Menschen, egal ob weiblich, trans* oder männlich, werden wahrnehmbarer, wenn sie konkret sprachlich genannt werden. Das trifft nicht nur auf einen offensichtlichen Begriff wie „Schwesterlichkeit“ zu, sondern wirkt bereits bei subtileren Formulierungen. ///

Anmerkung der Autorin: In der Redaktion diskutieren wir mögliche Schreibweisen und auch unsere Beweggründe für oder gegen Binnen-I, Sternchen, Doppelnennung und andere Varianten. Meistens verwenden wir für Personenbezeichnungen entweder substantivierte Verben oder das Binnen-I, unter anderem weil es die weibliche Form näher heranrückt als das Sternchen. Häufig versuchen wir auch, durch ein Abwechseln der männlichen und weiblichen Form zu irritieren, wobei damit alle Identitäten dazwischen nicht direkt ausgedrückt werden. Ich persönliche versuche, das generische Maskulin zu vermeiden und gegebenenfalls zu ersetzen. Ich respektiere, wenn jemand damit nicht einverstanden ist und möchte es momentan doch verwenden, da es in den meisten Fällen zum Wohle von Minderheiten ist. Männer spreche ich damit ebenso an wie Transsexuelle und Frauen.


[1] Klann-Delius, Gisela, Sprache und Geschlecht, Stuttgart 2005 S.31.

Über den Autor / die Autorin

Andrea Kreisel

Andrea Kreisel hat Philosophie, Kulturreflexion und kulturelle Praxis an der Universität Witten/Herdecke studiert und ist seit 2019 Autorin bei Info3.

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