Waldorf trifft Gemeinwohl-Ökonomie

Birgit Brauburger und Jana Theurer präsentieren den Gemeinwohl-Bericht ihrer Schule

Alle Schulen sind Einrichtungen des Gemeinwesens. Waldorfschulen werden zudem gemeinnützig betrieben, ein eigennütziges Interesse ist also ausgeschlossen. Ergibt es deshalb Sinn, Schulen im Rahmen einer Gemeinwohl-Ökonomie zu bilanzieren? Die Waldorfschule Wetterau in Bad Nauheim erklärt, warum das sinnvoll ist.

 

„Ein Unternehmen ist dann erfolgreich, wenn es die Gesellschaft als Ganze reicher macht“ – mit Aussagen wie dieser wirbt seit knapp zehn Jahren Christian Felber für eine „Gemeinwohl-Ökonomie“, die Ziele jenseits der finanziellen Gewinnspirale anstrebt. In den Verfassungen vieler europäischer Länder ist schon längst festgeschrieben, dass Wirtschaft dem Ganzen dienen soll, sagt Felber. Aber damit das auch Wirklichkeit wird, braucht es die Initiative von Menschen.

Viele solcher Pioniere sind inzwischen in der Gemeinwohl-Ökonomie engagiert. Vor zwei Jahren haben sich auch Mitarbeitende der Waldorfschule Wetterau in Bad Nauheim von Felbers Impuls anstecken lassen. Bisher gehören dessen gemeinwohl-ökonomischen Netzwerk vor allem Wirtschaftsunternehmen an, von der Sparda München über den Outdoor-Hersteller Vaude bis zum kleinen Bioladen. „Wir sind die erste Waldorfschule, die in einem Pilot-Projekt eine umfassende Gemeinwohlbilanz erstellt hat“, erzählt nicht ohne Stolz Jana Theurer, Geschäftsführerin der Waldorfschule Wetterau. Als Mitglied einer fünfköpfigen Initiativgruppe trieb sie das Thema in Bad Nauheim voran. „Für uns ging es darum, zu zeigen, dass Waldorfpädagogik als solche gemeinwohl-orientiert ist“, ergänzt Birgit Brauburger. Die Autorin und Mutter eines Schülers hat die Ergebnisse des Gemeinwohl-Berichts für die Jahre 2015 und 2016 in einer aufwändigen Broschüre zusammengestellt. „Dem anthroposophischen Menschenverständnis und unserem pädagogischen Konzept liegen Werte zugrunde, die seit jeher am Gemeinwohl orientiert sind“, heißt ein Schlüsselsatz aus diesem 60-seitigen Bericht. Er bringt die Absicht der Bad Nauheimer zum Ausdruck, ihr Selbstverständnis als Waldorfschule über das Wertesystem eines verwandten Impulses in eine noch breitere Öffentlichkeit zu transportieren. Möglich gemacht hat diesen Prozess auch die Software AG Stiftung durch eine Förderung des Projekts:„Für uns ist das Thema Gemeinwohl-Ökonomie spannend, weil wir uns ja bei unseren Projekten auch immer fragen, nach welchen Kriterien wir eigentlich die Qualität einer Förderung bemessen“, sagt Andreas Rebmann, der von der Darmstädter Stiftung aus das Projekt in Bad Nauheim begleitet. „Und da ist dieser Ansatz eine gute Orientierung“.

Umsetzung der Gemeinwohl-Matrix

Nun sind Waldorfschulen ohnehin dafür bekannt, dass es allen Beteiligten an Engagement nicht fehlt. Wozu dann noch der zusätzliche Aufwand, der mit der Erstellung einer Gemeinwohlbilanz anfällt? Auch manche Schulvertreter hatten da zunächst Zweifel. „Warum müssen wir uns jetzt mit anderen vergleichen? Geht es jetzt um Konkurrenz? – Solche Fragen kamen durchaus vor“, erzählt Jana Theurer. Dennoch wurde die Idee eines Zertifizierungsprozesses in den Schulgremien positiv aufgenommen, zumal die Projektgruppe angeboten hatte, die nötige Koordinationsarbeit zu übernehmen.

Vier Kriterien-Bereiche sind es, nach denen Projekte in der Gemeinwohl-Ökonomie bewertet werden:

  • Wie wird das Thema Menschenwürde gelebt,
  • wie steht es mit Solidarität und Gerechtigkeit,
  • wie mit der Nachhaltigkeit und
  • wie mit Transparenz und Möglichkeiten der Mitentscheidung?

Diese Werte werden wiederum in fünf sozialen Dimensionen verfolgt: Bei den Lieferanten und Zulieferern des Unternehmens, auf dem Feld der Eigentumsverhältnisse, bei den Mitarbeitenden, bei den Kunden und schließlich im weiteren gesellschaftlichen Umfeld. So kommen insgesamt 20 Koordinaten-Felder einer Matrix zustande, die jeweils mit Punkten bewertet werden. Im Ergebnis entsteht so – ergänzend zu der rein geschäftlichen Gewinn- und Verlustrechnung – die „Gemeinwohlbilanz“ einer Einrichtung.

„Uns war natürlich klar, dass unser Produkt nicht im Wirtschaftlichen liegt, sondern in dem, was wir gesellschaftlich als Wertschöpfung nach außen transportieren“, erklärt Jana Theurer. „Waldorfschulen haben vom zugrunde liegenden Menschenbild her einen sehr hohen Anspruch“, ergänzt Andreas Rebmann. „Wird dieser aber auch tatsächlich in einer gemeinwohl-ökonomischen Bilanz sichtbar?“ Dies herauszufinden war insofern eine Herausforderung, als die Besonderheiten der Waldorfschule objektiv für einen Außenblick dargestellt werden mussten. „Was sind unsere Kern-Werte, was wollen wir weitergeben? Hier zählt nicht ein Ideal, sondern die nachweisbare Umsetzung“, erläutert Birgit Brauburger. „Andererseits war es auch schön zu sehen, dass wir viele Dinge in unserem Schulalltag immer schon selbstverständlich leben, die nach den Kriterien als gemeinwohlfördernd gelten, ohne dass uns das so bewusst war“, so die Autorin weiter.

Die Bilanz

Zusätzlich zu den gelebten Werten wie Menschenwürde und Sinnhaftigkeit wurden im Zuge der Bilanzierung auch Bereiche ausgeleuchtet, die das Umfeld der Schule betreffen: Wie steht es mit den Produkten für die Schulküche? Woher kommt der Strom und wohin fließt das Geld? Wie sieht es mit den Lieferanten aus, was ist über die Arbeitsbedingungen externer Dienstleister bekannt? „Hier hatten wir teilweise durchaus Defizite“, räumt Jana Theurer ein. Beim Thema Menschenwürde der Zulieferer erzielte die Schule etwa nur einen Wert von 30 Prozent. Was aber nicht etwa daran liegt, dass die Zulieferer fragwürdige Sozialstandards hätten, sondern dass die Schule darüber schlicht nichts wusste. „Hier liegt eine Schwachstelle, die es nachzuarbeiten gilt.“ Auch die relativ niedrigen Einkommen der Lehrkräfte wurden im Prüfungsbericht als soziales Manko gewertet.

Insgesamt ergab die Bewertung 632 von 1000 möglichen Punkten. Das wirkt auf Anhieb vielleicht etwas wenig, relativiert sich aber wenn man erfährt, dass selbst Vorzeige-Unternehmen bisher auf höchstens 750 Punkte kamen. Die von der Schule erreichten 632 Punkte bedeuten ausbuchstabiert ein „Ergebnis zwischen der Stufe ‚erfahren’ und ‚vorbildlich’“– so heißt es wertschätzend in der Zusammenfassung der externen Auditorin, die info3 vorliegt. Außerdem hält die Zusammenfassung des Auditierungsberichts fest: „Weitere Bereiche, in denen vorbildliche Bewertungen erreicht wurden, sind innerbetriebliche Transparenz sowohl den MitarbeiterInnen als auch den NutzerInnen der Schule, also SchülerInnen und Eltern gegenüber.“ Hier wirkte sich insbesondere die einzigartige Selbstverantwortung der Waldorfschule in der Bewertung positiv aus.

Nachwirkungen

Angesprochen auf die Wirkungen des Zertifizierungsprozesses fallen den Projektverantwortlichen viele Beispiele ein. Nachhaltigkeit im Zusammenhang von Klassenfahrten sei plötzlich ein Thema geworden: Muss es eine Fernreise sein oder sollten Freizeiten nicht besser in der Region stattfinden? Im Zeitraum der Bilanzierung wurde Gemeinwohl-Ökonomie auch in Form von Projektwochen im Schulunterricht behandelt. Schüler waren ebenfalls eingeladen, Rückmeldungen zu dem entstandenen Bilanz-Bericht zu geben. Nicht zuletzt entstanden aber auch viele neue Kontakte ins Umfeld: Die Stadt Bad Nauheim hat begonnen, sich mit dem Thema zu befassen, eine regionale Gemeinwohl-Gruppe kam zustande, Anfragen von anderen Schulen folgten – das Thema bleibt aktuell.

Wenn die Beteiligten das alles erzählen, wird spürbar: Sie sind begeistert davon, dass neben allem, was Waldorfschule auch sonst schon besonders macht, ihre Schule durch diesen Prozess nun zusätzlich noch Teil einer anderen Bewegung geworden ist. Noch einmal Birgit Brauburger: „Wo immer das Thema auftaucht, man merkt, dass es jeden betrifft, auf ganz unterschiedlichen Ebenen, es ist eine ganz große Idee und birgt viele Möglichkeiten!“

 

  • Stichwort Gemeinwohl-Ökonomie

Die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung geht auf den Österreicher Christian Felber zurück, der 2010 einen entsprechenden Verein gründete und ein viel beachtetes Buch zum Thema veröffentlichte. Grundgedanke der Bewegung ist die Selbstverpflichtung von Unternehmen und Einrichtungen auf das Gemeinwohl. Dieses soll an den Kriterien (1) Menschenwürde, (2) Solidarität und Gerechtigkeit, (3) ökologische Nachhaltigkeit und (4) Transparenz und Mitentscheidung bemessen werden. Anhand einer differenzierten Bewertungsmatrix können Firmen und Institutionen in Ergänzung einer rein ökonomischen Bilanz ihre Gemeinwohl-Bilanz erstellen und sich entsprechend zertifizieren lassen. Das Zertifizierungsverfahren kostet je nach Größe der Einrichtung zwischen eintausend und dreitausend Euro.

Ziel der Gemeinwohl-Ökonomie ist eine allmähliche Transformation der Wirtschaft und der Gesellschaft „von unten“ und aus der Freiwilligkeit von Menschen heraus, ohne auf den Staat als Regulator angewiesen zu sein.

 

 

 

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.