Info3: Wie alles anfing

1980er Jahre: Laus im Pelz

So könnte man sich die Frage stellen, ob die „Mission“ dieser Zeitschrift mit dem Abflauen der Dreigliederungsaktivitäten beendet oder erfüllt war, ¬wäre da nicht eine neue Entwicklung eingetreten, die sich zumindest im Nachhinein mit einem „Aufmischen“ der anthroposophischen Bewegung charakterisieren lässt. In den 1980er Jahre schien die Zahl der anthroposophisch inspirierten Einrichtungen schier zu explodieren, vermutlich weil die Abkehr von der Theorie und die Zuwendung zur Lebenspraxis Zeitgeist war. Während Linke und Alternativen noch eher ratlos am Anfang des „langen Marsches durch die Institutionen“ standen, hatten engagierte Anthroposophen bereits ein klassenloses Krankenhaus (Herdecke), eine Bank ohne Zinsen (die GLS damals), freie Schulen, ökologische Landwirtschaftsbetriebe und vieles mehr realisiert.

Im krassen Gegenteil dazu standen große Teile der Mitgliedschaft der Anthroposophischen Gesellschaft, die noch von deutlich theosophisch-sektiererischen und auch schlicht gutbürgerlichen Zügen gekennzeichnet war. Hinzu kam eine grenzenlose Überheblichkeit und die hartnäckige Verweigerung, eigene Schwachstellen oder gar solche von Herrn Dr. Steiner anzuerkennen. Die selbstgenügsamen Vereinsanthroposophen sollten noch lange das äußere Erscheinungsbild der Bewegung bestimmen – und doch in der Öffentlichkeit nahezu wirkungslos bleiben, obwohl sie  zugleich das Alleinvertretungsrecht für sich in Anspruch nahmen. In der gesellschaftlichen Realität lief der Hase schon lange woanders.

Wir info3-Macher, die wir noch vor kurzem in Steiners Dreigliederung die gesellschaftliche Alternative schlechthin gesehen hatten, waren vom Lebensgefühl her in der Alternativbewegung, mit unseren Themen aber in der Anthroposophie verwurzelt. Aus diesem Spagat ergab sich dann eine neue Aufgabenstellung, auch wenn wir sie damals so noch nicht hätten formulieren können: Es war das Besprechbar-Machen von Problemen, das Sich-Messen an allgemein-gültigen ethischen Kriterien, das Aushalten von Widersprüchen, das Selber-Denken anstelle des Nachbetens. Kurz: info3 war die Laus im Pelz der anthroposophischen Bewegung, kritisch und zugleich auf Gedeih und Verderb auf diese angewiesen. Sprach man 1980 noch gerne von „Kulturinseln“, so sollte sich unserer Überzeugung nach die Anthroposophie aufmachen, sich zu einem Kulturfaktor zu entwickeln.

Unter Kulturfaktor verstehe ich eine allgegenwärtige Denk- und Empfindungsart, die, ohne dass sie explizit erklärt zu werden braucht oder infrage gestellt wird, auftaucht und wieder untergeht, d.h. Aufmerksamkeit erregt und aus der Aufmerksamkeit wieder verschwindet. Ein Kulturfaktor ist Teil der allgemeinen Kultur (soweit diese nicht einseitig definiert wird), dessen sich Menschen bewusst oder unbewusst bedienen und anschließen, und steht in Austausch mit anderen Kulturfaktoren. Außerdem ist ein Kulturfaktor gekennzeichnet durch eine ständige Entwicklung.

Eine Kulturinsel setzt sich dagegen von ihrer Umwelt ab, ihre besondere Eigenschaft wird mit Stolz hochgehalten; Außenstehenden werden gerne die Vorzüge des Besonderen vorgeführt, sie werden bestenfalls eingeladen mitzumachen und sich anzupassen, aber nur selten gebeten, Eigenes oder Neues einzubringen. Der Begriff „Kulturinsel“ setzt implizit voraus, dass um sie herum keine oder nur eine minderwertige Kultur herrscht. Bei dem gelegentlich genutzten Begriff der Kulturoase steigert sich diese Haltung zu grandioser Selbstüberschätzung. Ist rings herum wirklich nur Wüste?

Hier einige Beispiele unserer publizistischen Tätigkeit, die die Anthroposophie auf dem Weg von Kulturinsel zum Kulturfaktor begleitet haben:

  • 1981 veröffentlichten wir ein Interview mit Peter von Siemens. Es war der Hammer: Gerade erst hatte sich die anthroposophische Bewegung aufgemacht sich dem Umweltschutz zuzuwenden (übrigens mit unterschiedlicher politischer Gesinnung zwischen fortschrittlich und reaktionär) als bekannt wurde, dass die Firma Siemens Atomkraftwerke baute und deren Senior-Chef Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach war und die mathematisch-astronomische Sektion am Goetheanum finanziell unterstützte.

Wir zogen nach München und stellten mit Erstaunen fest, dass der ehrwürdige Herr es auch noch fertigbrachte, die Kernspaltung ganz im Sinne des christlichen Impulses der Anthroposophie als „Befreiung der Materie“ zu feiern. Das Interview in Info3 hatte Sprengkraft (und bescherte uns nebenbei einen Sprung in der Auflage). Konnte der grüne Flügel diese Blamage aushalten? Konnte man ertragen, dass bei der Aufnahme von Mitgliedern in die Anthroposophische Gesellschaft keinerlei Gesinnungsprüfung stattfindet? Konnte man verstehen, dass man als Redaktion jemanden zu Wort kommen lässt, deren Auffassung man ganz und gar nicht teilt?

  • 1986 waren uns eher unscheinbare, flugblattähnliche Veröffentlichungen von Rolf Saacke aufgefallen, der, wie es schien, krude Theorien über die Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft verbreitete. Bei näherem Hinschauen musste ich feststellen, dass der penible Dokumentenwälzer einem wahrhaften Realkrimi auf der Spur war: Rechtlich gesehen war (und ist) die Anthroposophische Gesellschaft nicht die zu Weihnachten 1923/24 mit heiligem Ernst und viel Elan gegründete Körperschaft. Vielmehr wurde am 8. Februar 1925, kurz vor Steiners Tod, der bestehende „Bauverein des Goetheanum“ klammheimlich in “Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft” umbenannt – vermutlich um Steuern zu sparen, die angefallen wären, hätte man die Versicherungsmillionen nach dem Brand des Goetheanum auf die neugegründete Gesellschaft übertragen.

So lebte die Gesellschaft seit Jahrzehnten mit fremden Statuten die rein gar nichts mit dem spirituellen Grundstein der Weihnachtstagung zu tun hatten. Das Thema war bereits in den 1930er und 1960er Jahren erörtert worden, aber als info3 die Geschichte von der konspirativen Namensänderung als erstes Organ veröffentlichte, wollte sie uns zuerst kaum einer glauben. Zum Glück fanden wir Unterstützung u.a. von Seiten eines Mitarbeiters des Rudolf Steiner Archivs, der die entsprechenden Belege vorzeigen konnte: Die Quittung jenes Notars in den Unterlagen, der dem Rechtsakt der Umbenennung beigewohnt und ihn protokolliert hatte. Es hat weitere gut 20 Jahre gedauert, bis der Vorgang allgemein anerkannt wurde. So lange brauchte die Bewegung, bis sie bereit war, sich mit ihrer eigenen Unzulänglichkeit und der Kurzsichtigkeit von einigen von Steiners engsten Mitarbeitern auseinanderzusetzen. War denn die Steuerersparnis wichtiger als die spirituelle Realität eines Gründungsaktes?

  • 1996 veröffentlichten wir ein erstes noch bescheidenes Adressenverzeichnis Anthroposophie, bis die letzte Ausgabe 2006 dann über 400 Seiten, ca. 7.000 eingetragene Einrichtungen allein im deutschsprachigen Europa, ca. 1.000 Berufsbildungslehrgänge sowie ca. 10.000 Praktikums- und Ausbildungs-, Zivildienst und FSJ-Plätze umfasste. Als die erste Ausgabe erschien, gab es noch kein Internet und die eher konservativ gestimmten Funktionäre etwa des Demeter-Bundes und der anthroposophischen Ärzteschaft machten sich ernsthafte Sorgen wegen der Tatsache, dass jetzt jeder nachsehen konnte, wo anthroposophisch gearbeitet wurde. Das würde die „Gegnerschaft“ aufs Tapet rufen, so fürchtete man, und überhaupt, es könne ja wieder eine Diktatur kommen und die Arbeit verboten werden!

Tatsächlich hat das Adressenverzeichnis mehr genutzt, den Umfang der praktischen anthroposophischen Arbeit zu belegen, als dass man Adressen darin nachgeschlagen hätte. Außerdem veranschaulichte es deutlich, dass die Einrichtungen autonom und allenfalls in Fachverbänden zusammengeschlossen sind, nicht aber einer zentralen Lenkung unterliegen. Die Rolle des Goetheanums als „Zentrum“ der Anthroposophie konnte man nicht länger als eine Art Firmensitz missverstehen. Hätte es ein wirksameres Mittel gegeben, der Öffentlichkeit zu zeigen, welche gesellschaftliche Bedeutung die Anthroposophie mittlerweile allein durch die Zahl der Einrichtungen erlangt hatte?

  • 1998 erschien das erste (von zwei) Gutachten der niederländischen Kommission „Anthroposophie und die Frage der Rassen“ die von der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden bei dem angesehenen Menschenrechts-Experten Ted van Baarda in Auftrag gegeben worden waren. Anlass dazu hatten vermehrt auftretende Stimmen in der Presse gegeben, in denen Steiner rassistische Äußerungen vorgeworfen wurden. Bereits in dem ersten Bericht, von dem wir im Info3 Verlag 1998 die deutsche Übersetzung vorgelegt haben, werden alle Vortragsstellen Steiners zur „Rassenfrage“ aufgelistet und einer Analyse unterzogen.

Das Gutachten war noch stark gefärbt von dem Versuch, missverständliche Äußerungen Steiners zu erklären. Einige wenige (von 16 Stellen) beurteilte die Kommission aber immerhin als geeignet, Menschen zu diskriminieren; sie wären damit, „würden sie heute vorgetragen“ nach niederländischem Strafrecht und internationalen Standards sogar strafbar. Die selbstkritische Veröffentlichung hat, nach einem kurzen Aufflammen der Diskussion, tatsächlich zu einer weitgehenden Beruhigung der Auseinandersetzung beigetragen.

Für die Anthroposophen war es teilweise schwer zu ertragen, dass Steiners Aussagen mit dem Maßstab der Allgemeinen Menschenrechte beurteilt wurden. In der Folge erschienen auch in Deutschland einige Stellungnahmen, in denen man sich mühevoll dazu durchgerungen hatte zu bescheinigen, dass es Aussagen Steiners gibt, die rassistisch oder diskriminierend „wirken“. Meinem Kollegen Jens Heisterkamp und mir ging das nicht weit genug. Der zeitgemäße Umgang mit einem historischen Autor verträgt keine Schönfärberei. Daher beschlossen wir, nach Rücksprache mit und Unterstützung einer größeren Zahl von Verantwortungsträgern aus der anthroposophischen Arbeit und Gesellschaft, eine noch kritischere Bestandsaufnahme zu veröffentlichen, die als Frankfurter Memorandum 2008 bekannt wurde.

Wir haben darin einen Unterschied gemacht zwischen missverständlichen Formulierungen Steiners (die es tatsächlich auch gab) und Aussagen, die rassistisch sind. Unser Fazit war: obwohl Steiner auf vielen Gebieten seiner Zeit weit voraus war und positive Entwicklungen in Gang gesetzt hat, blieb er in Bezug auf fremde Ethnien oft in den Denkgewohnheiten seiner Zeit verhaftet. Ob ihn das sympathischer gemacht oder in den Augen seiner Bewunderer vom Sockel gestoßen hat, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist, dass die Diskussion um die inkriminierten Aussagen Steiners seitdem deutlich sachlicher geführt wurde. Wer jetzt noch mit einzelnen Textstellen als Beleg Steiner undifferenziert als Rassisten bezeichnet, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht auf dem Stand der Diskussion zu sein.

  • 2006 fand die erste Frankfurter Herbstakademie statt. Es sollten noch weitere zehn folgen. Verfolgt man die Entwicklung der anthroposophischen Tagungen und Kongresse über die Jahrzehnte, stellt man bald fest, dass nach Steiners Tod 1925, anders als vorher, fast ausschließlich intern-anthroposophische Veranstaltungen stattfanden. Später kamen „öffentliche“ Vorträge dazu (wobei an dieser Stelle offenbleiben muss, inwiefern die Öffentlichkeit tatsächlich je erreicht wurde). Dann wurden, zögernd, fremde Referenten eingeladen, zunächst allerdings nur solche, deren Positionen weitgehend mit den anthroposophischen Denkmustern übereinstimmten. Erst seit den letzten zehn oder 20 Jahren findet vereinzelt auch mal ein richtiger Diskurs mit Andersdenkenden auf anthroposophischer Bühne statt. Der nächste Schritt auf dem Weg von der Kulturinsel zum Kulturfaktor konnte zwangsläufig nur sein, themenbezogene Tagungen gemeinsam und gleichberechtigt mit Vertretern anderer Richtungen zu organisieren.

Eine solche Veranstaltungsreihe initiierte Info3-Redakteur Jens Heisterkamp zusammen mit Kollegen von „Enlighten Next“ (damals die Bewegung um Andrew Cohen, die heute autonom das Magazin Evolve herausbringen) und der Integralen Initiative Frankfurt (ausgehend vom Werk Ken Wilbers). Die drei Veranstalter waren, nebenbei bemerkt, zeitweise (aber nicht ganz zufällig) in der Frankfurter Kirchgartenstraße ansässig, an den Hausnummern 1, 2 und 3. Der entscheidende Faktor zum Erfolg dieser Akademie-Tagungen war die gemeinsame Vorbereitung, bei der ein intensiver Gedankenaustausch auf Augenhöhe stattfand. Mit einem solchen Austausch wird eine weitere Voraussetzung erfüllt, zum Kulturfaktor zu werden. (Die Gründung einer ebenfalls gemeinsam mit Vertretern anderer Richtungen gestalteten „spirituellen“ Zeitschrift in unserem Verlag war demgegenüber nicht erfolgreich. Das Interesse der Akteure für die Sichtweise der jeweils anderen war nicht von allen Seiten gegeben.)

Über den Autor / die Autorin

Ramon Brüll

Ramon Brüll (geb. 1951) gehörte zum Gründerteam der 1976 in Amsterdam ins Leben gerufenen Zeitschrift info3, damals als mehrsprachige Zeitschrift für soziale Dreigliederung. Er studierte Landschaftsgeographie und ist heute Geschäftsführer des Info3 Verlages.