Klimakrise: Das Lebewesen Erde ist bedroht

Foto: NASA

Die Dimensionen des im Gang befindlichen Klimawandels übersteigen leicht unser Vorstellungsvermögen. Dieser Beitrag zeigt Fakten, Zusammenhänge und Größenordnungen.

Von Stefan Ruf

Wann beginnt eine Sache zu existieren? Das ist in den meisten Fällen selbst im Nachhinein schwer zu sagen. Was den Klimawandel anbelangt, ist es dreifach schwer.

Denn wie sieht Klimawandel aus? Der Hauptverursacher, ein chemisches Molekül, die Kohlenstoffverbindung CO2, ist ein natürliches Gas für Billiarden von Pflanzen: unsichtbar, riecht nicht, schmeckt nicht, lärmt nicht, tut nicht weh. Sein Anstieg ist, prozentual gesehen, in den letzten hundert Jahren minimal: von 0,028 Prozent auf 0,04 Prozent in der Atmosphäre. Und der Konzentrationsprozess, der das Problem bildet, findet in rund 16 Kilometern Höhe über unseren Köpfen statt: Hier entsteht eine minimal dichtere Atmosphäre, die dazu führt, dass Sonnenstrahlen zwar weiterhin problemlos eindringen können, nach ihrer Reflexion auf der Erde aber nicht mehr so gut abstrahlen können. Dadurch erwärmt sich, wie in einem Treibhaus, die Erde, peu à peu – ganz unspektakulär. Wenn man also irgendeine chemische Verbindung konstruieren müsste, die sich dazu eignet, ein dramatisches Geschehen über eine längere Zeit möglichst undramatisch in die Wege zu leiten – hier hätte man sie.

Eine Sache beginnt auf Erden zu existieren, wenn sie sich zeigt – das ist die eine Bedingung. Aber sie muss auch wahrgenommen werden – das ist die andere. Es braucht Geräte, die Konzentrationen messen können. Es braucht Einheiten und Maßstäbe für diese Geräte. Und es braucht zähe Wissenschaftler, die an etwas dranbleiben, das zunächst ziemlich unspektakulär anmutet. Das ist die zweite Bedingung.

Aber auch damit ist es nicht getan. Denn Werte und Konzentrationen, sagen wir die Temperatur- und CO2-Konzentrationskurven der letzten 50 Jahre, sind an sich ziemlich nichtssagend (außer eben, dass ein starker Anstieg zu verzeichnen ist). Es braucht also drittens eine sehr komplexe Wissenschaftsmethode, die sich mit systemischen Vernetzungen, Wirbelbildungen und Transformationsvorgängen im Bereich der vier Elemente – also des Wässrigen, Luftigen, Erdigen, Feurigen – beschäftigt. Und zwar nicht nur lokal, sondern global. Denn das Klima ist kein lokales Phänomen, sondern ein den Globus umspannendes: gigantische Flusssysteme in der Tiefe des atlantischen Ozeans wollen genauso mitbedacht werden wie Jetstreams (also Luftströme) in der Stratosphäre Euroasiens; Lavabewegungen unter kilometerdicken Eisschichten der Antarktis genauso wie riesige Methangasfelder, die in den noch gefrorenen Permafrostböden Sibiriens lagern. Sie alle hängen miteinander zusammen; eine Veränderung des einen Systems verändert auch das andere.

Klima verstehen

Aber wenn man das Klima verstehen will, darf man es nicht nur als ein physikalisches Geschehen fassen. Das wäre, mit seinen komplizierten Strömungs- und Wirbelprozessen (mit denen sich die Chaosphysik in den letzten 50 Jahren beschäftigt hat) schon kompliziert genug. Auch Prozesse aus der Biosphäre selber, der Atem der Wälder, das Gewicht der Biomasse zu einem gewissen Zeitpunkt, die unterschiedlich intensive Reflexion von Sonnenlicht – abhängig davon, ob auf der Fläche Wüste ist oder eine Wiesenlandschaft – und vieles mehr spielen hier mit hinein. Und ebenso haben kosmische Faktoren, entstanden durch periodische Rüttelungen und Neigungsschwankungen unseres Planeten in seiner Bahn um die Sonne, ihren Einfluss. Überhaupt: Klima und Leben sind ohne die Wärme und das Licht, also den Einfluss des Kosmos, nicht zu verstehen.

Und last but not least hat sich in die Natur und den Kosmos ein Akteur mit hineinvernetzt, der sich aus ihren Reichen schon fast verabschiedet wähnte: der Mensch! Drei Dinge mussten also zusammenkommen: das Phänomen, die Wahrnehmung mittels technischer Gerätschaften und ein Begriff davon mittels einer sehr komplizierten wissenschaftlichen Methode. Erst dann fing der Klimawandel an zu existieren. Und natürlich konnten sie nur zusammenkommen, weil es schon eine Geschichte davor gab, eine Vor-Geschichte, sowohl der Erderwärmung als auch der Klimaforschung. Erstaunlicherweise dauerten beide Vorgeschichten sogar ziemlich gleich lang: rund 250 Jahre.

Zyklische Kurven – die atmende Erde

Zusammengekommen aber sind sie im Jahre 1958 auf einem mächtigen Vulkan, dem 4000 Meter hohen Mauna Loa auf Hawaii. Zusammengebracht hat sie ein amerikanischer Chemiker, Edward Keeling. 1957 wurde er mit einem Forschungsprojekt beauftragt, das mit der Frage der unterschiedlichen Verteilung und zeitlichen Konstanz von CO2 zu tun hatte. Schon nach wenigen Jahren zeigten sich erstaunliche Ergebnisse, und zwar von ganz unterschiedlicher Qualität. Die einen hatten einen zyklischen Charakter, die anderen einen linearen. Die einen waren faszinierend, die anderen alarmierend.

Die zyklischen Kurven betreffen Qualitäten von Rhythmus und Wechselwirkung: die Erde als gesamter planetarer Organismus hat einen Rhythmus von Ein- und Ausatmen. Keeling fand heraus, dass der CO2-Gehalt in der Atmosphäre schwankt, aber nicht chaotisch, sondern in festen Rhythmen: er ist morgens höher als abends, er ist im Frühjahr höher als im Herbst, die Konzentration ist auf der Nordhalbkugel etwas geringer als auf der Südhalbkugel. Die Erde, sie atmet über ihre Biosphäre, über die Trilliarden von Wesen – Algen, Plankton, Farne, Bäume – ein und aus (und weil es auf der Nordhalbkugel mehr Vegetation gibt, ist die CO2-Konzentration hier minimal kleiner). Die Erde machte den Eindruck eines lebendigen Organismus, der ein- und ausatmet, der dabei sein „Zwerchfell“, das in der Biosphäre liegt, ein Stück weit verschiebt, je nach Jahreszeit, in der mehr Biomasse emporwächst oder abstirbt. Und diese Verschiebung hat sogar Auswirkungen auf ihre Rotation: Sie führt zu leichtgradigen Unregelmäßigkeiten über die Unwucht der Masse, sodass die Erde gleichmäßiger oder ungleichmäßiger rotiert.

Und es hat Einfluss auf ihre Atmosphäre. Denn durch die biologischen Prozesse, die auf ihr stattfinden, verändert sich die Zusammensetzung ihrer Hülle. Die Konzentrationsverhältnisse in dieser feinen Hülle, in dieser Membran, die sich um ihre Kugelgestalt schmiegt – (oder ist sie Teil ihrer Gestalt, nur in etwas geringerer Verdichtung?) – sind nicht so, wie sie chemisch wären, wenn es keine Atmungsprozesse gäbe. Sie sind aus dem „natürlichen“ Gleichgewicht gebracht. Es ist verändert: weil da etwas atmet, weil da etwas lebt. Die Erde – ein lebendiger Organismus!

Dynamisches Wachstum – die Erde wird heißer

Zurück zu Keeling ins Jahr 1958 und zu seiner zweiten Kurve, der alarmierenden. Diese hat nichts von einem rhythmischen Geschehen, sondern ist Ausdruck eines mächtigen dynamischen  Wachstumsprozesses: die CO2-Konzentration in der Atmosphäre steigt von Jahr zu Jahr mit einer unglaublichen Dynamik an. Für Keeling war es eine irritierende Erfahrung, neben der oben beschriebenen zyklischen Kurve kontinuierlich Jahr für Jahr einen Anstieg des CO2 in der Atmosphäre verzeichnen zu müssen. Dieser Prozess setzt sich seither weiter fort. Zu Keelings Zeit Ende der 1950 er lag der CO2-Gehalt noch bei 317 ppm (parts per million). In Prozent ausgedrückt bedeutet das, dass 0,0317 Prozent der Atmosphärenluft aus CO2 bestehen. Das ist im Vergleich mit dem Stickstoffgehalt (78 Prozent) und dem O2 Gehalt (20 Prozent) verschwindend gering. Dass aber minimale Konzentrationen in einem systemischen Organismus riesige Auswirkungen haben können, ist spätestens seit der Ozonlochproblematik durch FCKW in den letzten 30 Jahren bekannt. Diese kamen in der Atmosphäre in einer Konzentration vor, die rund eine Million Mal geringer war als die des CO2 und waren trotzdem verantwortlich für ein Loch in der Südhalbkugel, das bis zu 27 Millionen Quadratkilometer Fläche hatte. FCKW in geringster Konzentration hatte also katastrophale Auswirkungen auf die „Atmosphärenhaut“ der Erde. Es konnte erfreulicherweise durch eine globale Initiative gebremst werden. Inzwischen hat der CO2-Gehalt– Stand 2015 – die 400 ppm Marke überschritten, Tendenz weiterhin steigend. Aber wie kann das sein?

Unser Über-Verbrauch

Die Menschheit verbraucht jeden Tag rund 15 Milliarden Liter Öl, das ist so viel wie in 550.000 Ölgüterwagen passen. Aneinandergekoppelt ergäbe das einen Zug von 4450 Kilometer Länge, also vom Nordkap bis nach Sizilien. All das verbrannt pro Tag! Und nur Öl!

Hinzu kommen der Kohleausstoß und das Gas. Diese Energie brauchen wir, um unser globales Wirtschaftssystem am Laufen zu halten: um Güter zu produzieren, die weltweit konsumiert werden. Um die Mobilität zu gewährleisten, um diese Güter von China nach Amerika zu schicken. Und die Manager und Touristen gleich mit. Aber auch um unsere Häuser zu heizen. Und für „unser tägliches Brot“ in Form von billigem Fleisch, Wurst und Käse. Egal, wie wir zu unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem stehen – wir fragen uns viel zu selten, woher diese in der Menschheitsgeschichte absolut einmalige Dynamik der Produktion und Beschleunigung herkommt. Wie kann man in so kurzer Zeit so viel produzieren? Millionen Güter, Radiowecker, Handys, Turnschuhe, Fahrräder, Autos, Flughäfen. Woher kommt die Energie dazu? Was gibt uns die Energie? Sie kommt aus dem Bauche Gaias: Längst verstorbene Wesen – Bäume, kleinere und größere Meeresbewohner – die versteinert, verwest, verwandelt sind in Kohle, Öl, Erdgas, liefern uns den Treibstoff für ein Wirtschaftssystem, das uns Wachstum, Konsum, Sicherheit, Bequemlichkeit liefert wie nie zuvor in unserer Geschichte – und jedes Jahr mehr davon. Der Klimawissenschaftler Schellnhuber nennt das den „fossilen Flaschengeist“.

Drohende Tipping Points

Verbunden mit dieser Dynamik der Mehrproduktion des CO2 ist leider eine zweite Dynamik, die ebenfalls zu einem Anstieg führt: Wir vernichten auch die Lebewesen und Räume, die dafür sorgen, dass CO2 der Luft wieder entzogen wird: Wälder, Moore, Humusböden. All diese Netzwerke atmen und speichern CO2, entziehen es also der Atmosphäre. Man nennt das Negativemission. Sie aber werden bei dem Kampf um Böden für Sojafelder, Rohstoffe oder Weideflächen vernichtet. So kommen also zwei Entwicklungen zusammen: es wird viel mehr CO2 produziert als früher und es wird viel weniger CO2 aus der Atmosphäre entnommen. Diese beiden Prozesse erklären den steilen Anstieg der Kurve. Auf der Erde entsteht ein Defizit, es wird zuviel „ausgeatmet“.

Parallel zum CO2 steigt – und das ist das eigentliche Problem – auch die Temperatur. Etwa um einen Grad ist die Weltdurchschnittstemperatur seit 1880 angestiegen. Die Erde fiebert. Gegenwärtig bewegt sie sich auf Prognosen zwischen drei und vier Grad zu. Das ist aus folgendem Grund alarmierend: Es gibt nämlich eine große Gefahr, wenn zwei unterschiedliche Prozesse aufeinanderstoßen, der zyklische und der lineare. Auch in der Natur kann das passieren, etwa bei einem Vulkanausbruch. Man spricht hier von Tipping points (Kipppunkten): Generell sollte man bei der Erderwärmung ein ähnliches Bild haben, wie beim Blick auf unseren menschlichen Organismus: also zwei Grad mehr Jahresdurchschnittstemperatur hieße 39 anstatt der normalen 37 Grad Körpertemperatur. Und es gibt eine weitere Parallele zum Klima: So wie es beim menschlichen Organismus bei einer Sepsis, also einer schweren Entzündungsreaktion mit Fieber, zu einem Zustand kommen kann, wo es kippt, sich Prozesse also plötzlich in eine völlig andere Richtung entwickeln anstatt graduell anzusteigen (ein Blutdruck, der eben noch gesenkt werden musste, weil er viel zu hoch war, bricht plötzlich zusammen und die gegenteiligen Medikamente sind gefragt), so ist es auch mit dem Erdorganismus: Wenn die Durchschnittstemperatur steigt, dann heißt das eben nicht, dass es immer wärmer wird, sondern dass Prozesse plötzlich ganz andere Bahnen einschlagen. Zum Beispiel könnte bei einem Temperaturanstieg auf über zwei Grad der Golfstrom plötzlich völlig versiegen und in vielen Bereichen Europas würde es nicht wärmer werden, sondern kälter. Oder wenn die Permafrostböden in der Arktis auftauen, kommt so viel organisches Kohlenstoffmaterial in die Atmosphäre, dass alle Zwei-Grad-Ziele völlig illusorisch sind. Das würde bedeuten: selbst wenn man die menschengemachte Treibhausgasmenge hinterher drastischer als geplant reduzieren könnte, wären viele Entwicklungen irreversibel. Das aber bedeutet, dass nicht mehr in Zeitspannen von 30 Jahren (bis 2050) gedacht werden darf, sondern dass die nächsten zehn Jahre essenziell sind. Wir müssen jetzt handeln. ///

Dr. med. Stefan Ruf ist Facharzt für Psychosomatik/Psychotherapie. Seit zwei Jahren beschäftigt ihn die Frage, warum wir bezüglich des Klimawandels so viel wissen und so wenig tun. Der Text ist ein Auszug eines im Herbst im Info3 Verlag erscheinenden Buches über den Zusammenhang von Klimawandel und Bewusstseinswandel.

Dieser Text erschien in der Zeitschrift info3 / Ausgabe April 2019 im Rahmen des Themenheftes DIE ERDE FIEBERT, das hier bestellbar ist.

Über den Autor / die Autorin

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